Willkommen zu Ausgabe No.1 von Bilderuniversum.
Alle drei Wochen wird hier ein Gespräch mit einer Person erscheinen, die sich mit dem Zusammenspiel von visuellen Medien und Gesellschaft beschäftigt.
Die erste Ausgabe startet mit einem Gespräch mit Jörg Colberg. Er ist Autor und Fotograf und hat unter anderem am Massachusetts College of Art and Design, der Rhode Island School of Design und der University of Hartford Fotografie gelehrt. Seit 2002 betreibt er das Blog Conscientious Photo Magazine, auf dem er Interviews, Essays und Fotobuchkritiken zur zeitgenössischen Fotografie veröffentlicht.
In unserem Gespräch geht es um sein Buch Photography’s Neoliberal Realism (2020) und darum, wie sich seine Überlegungen auf die Gegenwart übertragen lassen.
Felix Schmale: Was verstehst du unter deinem Begriff des Neoliberal Realism?
Jörg Colberg: Der Neoliberale Realismus ist für mich die kapitalistische Version des Sozialistischen Realismus, also eine Form von Kunst, die durch die Vermittlung von Codes das kapitalistische System, in dem wir leben, feiert. Allerdings hatte Mark Fisher (der leider viel zu früh verstorben ist) bereits den Begriff des Kapitalistischen Realismus geprägt, der etwas anderes bedeutet als der Kapitalistische Realismus, den es kurz in der deutschen Kunst gab. Ich musste mir also einen anderen Begriff ausdenken. Es machte Sinn, mich auf den neoliberalen Kapitalismus zu konzentrieren, der ja seit den 1980er Jahren unser Leben prägt und maßgeblich zum Widererstarken des Faschismus beigetragen hat.
Mit dem Neoliberalen Realismus greife ich Ideen von Boris Groys auf, der in The Total Art of Stalinismerläutert, wie der Sozialistische Realismus zu verstehen ist. Ich hatte schon immer argumentiert, dass Fotografie im Wesentlichen durch die Vermittlung von Codes operiert. Groys hat mir gezeigt, wie wichtig solche Codes gerade in Bildern sind, die anscheinend etwas völlig anderes zeigen. Fotos von Annie Leibovitz sind also nicht nur grotesker Kitsch (was sie zweifelsohne sind), sondern vor allem ein extremer Ausdruck z.B. der Leistungsideen, die dem Kapitalismus zugrunde liegen.
FS: In deiner Publikation Photography's Neoliberal Realism (2020) schreibst du, dass nicht alle Bilderder Gegenwart unter den Mechanismen fassbar sind. Welche Bilder schließt du aus und warum?
JC: Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine extrem wichtige Rolle spielen. Damit erzähle ich niemandem etwas Neues. Aber ich denke, dass gerade in der Welt der Fotografie diese Rolle noch immer unterschätzt wird. Zum Beispiel gibt es jetzt Museen, die nur deswegen existieren, damit Leute Selfies in ihnen machen können. Selfies haben ja in der Welt der Fotografie einen ganz schlechten Ruf, aber ich teile diese elitäre und weltfremde Ansicht gar nicht. Das interessant an diesen Museen ist nicht, dass es eigentlich keine echten Museen sind. Das Interessante ist gerade das, was von so vielen Foto-Menschen abgelehnt wird, dass nämlich die Besucher:innen Selfies mit dem, was ausgestellt ist, machen. Das heißt, die Idee des Museums ist nicht die passive Rezeption von irgendetwas, das in angemessener Stille zu betrachten und bewundern ist, sondern der Einbezug der Besucher:innen in die ausgestellte Welt.
Natürlich ist das reinster Kapitalismus: es ist purer Konsum. Und es ist eine Akzeptanz dessen, was mit dem eigenen Gesicht fotografiert und dann in sozialen Medien geteilt wird. Es ist also eine aktive, gewollte Teilhabe am System — auch wenn den meisten Besucher:innen nicht bewusst ist, was sie eigentlich machen bzw. mit sich machen lassen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass es hier nicht darum geht, wer so ein Foto macht oder wie das aussieht. Ein Selfie in so einem Museum sieht natürlich nicht so aus wie eines von Andreas Gurskys Werken (in Deutschland kam es übrigens gar nicht so gut an, dass ich einen der Lieblinge der Fotoszene so kritisch betrachtet habe). Aber die Funktion dieser Bilder ist genau dieselbe.
Insofern ist Neoliberaler Realismus am besten über seine Funktion zu verstehen — und nicht darüber, wer die Bilder macht oder wie die im Detail aussehen. Und gerade Vergleiche mit anscheinend sehr verschiedenen Bildern — Selfies im Gegensatz zu den Luxusgütern aus Düsseldorf — erlauben hier ein tieferes Verständnis von Fotografie und ihrer Rolle in unserer Gesellschaft als vieles, was sonst unter fototheoretischem Diskurs verstanden wird.
Gerade weil der neoliberale Kapitalismus so sehr damit arbeitet, dass die Produkte oder Erlebnisse so fotogen sind, wird es schwieriger und schwieriger, ihn zu vermeiden. Aber wie gesagt, wichtig ist es immer, die Funktion eines Fotos zu verstehen, und sich nicht von technischem Schnickschnack oder anderem Unsinn ablenken zu lassen. Ein Foto kann sehr wohl eine Funktion für den neoliberalen Kapitalismus haben, auch wenn das gar nicht die Absicht der Fotografin oder des Fotografen war.
FS: Was verraten die Bilder – im Sinne des Neoliberal Realism – über die Gesellschaft(en), in denen sie zirkulieren, abseits von einem vermeintlichen Abbild der Wirklichkeit?
JC: Die Popularität von Künstler:innen wie Annie Leibovitz oder Andreas Gursky zeigt, wie wirkungsmächtig der neoliberale Kapitalismus ist. Das System wird ja mittlerweile praktisch kaum noch hinterfragt. Im deutschen Bundestag sitzt z.B. nun nur eine einzige Partei, die Kritik daran anbietet. Egal, was man nun von den Linken halten mag, ist das die Realität. Abgesehen von den Nazis bieten alle anderen Parteien nur Variationen derselben konservativen Idee von Politik an.
Erschreckenderweise findet echte Fotokritik kaum statt. Als z.B. nach dem Attentat auf Trump dieses eine total faschistische Foto die Runde machte (das nun als „Gemälde” im Weißen Haus hängt), gab es nur wenig Kritik daran, was da eigentlich gezeigt wurde. Die klaren faschistischen Codes, die der Fotograf zusammen mit den Redakteur:innen produziert hatte, wurden einfach nicht verstanden. Stattdessen feierten sich die Mitarbeiter:innen der Fotoagentur noch: seht mal, wie toll dieses Bild ist. Fucking hell!
Es gibt also zum einen selbst unter vermeintlichen Profis kaum ein tieferes Verständnis dafür, wie Fotos operieren und wie sich ihre Wirkungsmacht entfalten kann. Zudem wird kaum verstanden, in welchem Ausmaß Fotos unsere Realität bestimmen. Angesichts der Tatsache, dass Fotos das praktisch wichtigste Kommunikationsmedium unserer Zeit sind, ist das eine Katastrophe.
FS: "Visual literacy" wird von dir als eine Möglichkeit beschrieben, Fotografie unter deinen Überlegungen zum Neoliberal Realism zu denken. Welche konkreten Ansätze und Orte gibt es dafür?
JC: Ich kann mir allerlei einfache Mechanismen vorstellen, um das Verständnis für Bilder (nicht nur Fotos) zu erweitern. Ich mache mir aber keinerlei Illusionen, dass das wirklich passieren wird. Zeitungen und Magazine z.B. könnten ihre Bildredakteure verpflichten, regelmäßig Bilder zu besprechen (das könnte auch online stattfinden). Die Kompetenz dazu sollte an sich vorhanden sein. Andererseits bin ich da vielleicht zu optimistisch, denn ich hab mich ja gerade über die visuelle Inkompetenz der Macher:innen des Trump-Fotos aufgeregt. Naja, jedenfalls könnten solche Angebote problemlos in den Medien erscheinen (auch im Fernsehen).
Darüber hinaus müssten Schulen, die ja lesen und schreiben lehren, auch eine Komponente anbieten, die das Lesen von Bildern beinhaltet. Ich meine nicht unbedingt Kunstunterricht, sondern etwas viel Elementareres. Auch da habe ich keinerlei Illusionen, dass sowas umgesetzt wird. Wie wichtig sowas wäre, sieht man ja z.B. an den vielen Beispielen, wo Bilder oder Ideen in den Medien z.B. jungen Frauen erhebliche Probleme bereiten (bis hin zu Essstörungen). Als Gesellschaft schulden wir es an sich unseren Kindern, sie auf die Welt, in die sie sich begeben werden, vorzubereiten. Dass das nicht stattfindet, ist beschämend.
Im Rahmen von Foto-Festivals könnten solche Komponenten auch problemlos angeboten werden, allein schon, um das oft Elitäre solcher Festival etwas zu reduzieren. Ich stelle mir solche Angebote auch interaktiv vor (sowas geht auch in Schulen): Statt eine:n Expert:in vortragen zu lassen, wie ein Foto zu lesen ist, würde ich das Ganze als Diskussion unter den Zuschauer:innen machen: was genau seht Ihr da? Was macht das mit Euch? Der:die Expert:in würde dann nur gewieft die richtigen Fragen stellen müssen und gelegentlich die Diskussion etwas lenken, um das Publikum zum Ziel zu führen. Vor Jahren habe ich mal genau so eine Klasse zum Thema Visual Literacy unterrichtet (bzw. an sich nur geleitet); das hat sehr viel Spaß gemacht, weil die Student:innen schnell gemerkt haben, dass sie mit ein kleines bisschen Hilfe vieles auch einfach untereinander herausfinden können.
FS: Welche Herausforderungen oder Verschiebungen ergeben sich für dein Konzept des Neoliberal Realism durch die Debatte um KI-generierte Bilder?
JC: Ganz ehrlich, abgesehen von den Gedanken, die Roland Meyer produziert, finde ich die Debatten über die sogenannte KI zumeist in einem peinlichen Maße unterkomplex. Als theoretische Herausforderung sehe ich solche Bilder eher nicht. Ob das nun Fotos sind oder Bilder… das hat mit dem Thema an sich nichts zu tun. Entscheidend ist wirklich nur, wie solche gebraucht werden und welche Codes sie beinhalten.
Ich habe an sich vor, das Thema Neoliberal Realism noch zu erweitern und KI-Bilder hinzuzufügen. Gleichermaßen möchte ich aufzeigen, dass viele Wurzeln des Neoliberal Realism ja schon in der Fotografie der sogenannten Neuen Sachlichkeit zu finden waren. Dazu kommen dann noch die Überschneidungen mit dem Faschismus damals, und wie Roland Meyer oft betont, sind die KI-Bilder ja auch nur das Spezialmedium des heutigen Faschismus. Ob ich dazu kommen werde, weiß ich nicht. Ich vermute, dass ich dazu den „Druck” eines Verlags brauchen würde. Nachdem ich vor ein paar Jahren ein Buch über Fotografie geschrieben habe, für das ich keinen Verlag gefunden habe, weiß ich nicht, ob ich mir das noch einmal antun möchte, ohne die Garantie zu haben, dass das dann auch erscheint.
Diesen Beitrag zitieren:
Joerg Colberg, interviewt von Felix Schmale: Bilderuniversum No. 1 mit Joerg Colberg, Bilderuniversum – Ein Newsletter über visuelle Medien und Gesellschaft, 22.06.2025, online unter https://www.felixschmale.com/bilderuniverum-no1
Willkommen zu Ausgabe No.1 von Bilderuniversum.
Alle drei Wochen wird hier ein Gespräch mit einer Person erscheinen, die sich mit dem Zusammenspiel von visuellen Medien und Gesellschaft beschäftigt.
Die erste Ausgabe startet mit einem Gespräch mit Jörg Colberg. Er ist Autor und Fotograf und hat unter anderem am Massachusetts College of Art and Design, der Rhode Island School of Design und der University of Hartford Fotografie gelehrt. Seit 2002 betreibt er das Blog Conscientious Photo Magazine, auf dem er Interviews, Essays und Fotobuchkritiken zur zeitgenössischen Fotografie veröffentlicht.
In unserem Gespräch geht es um sein Buch Photography’s Neoliberal Realism (2020) und darum, wie sich seine Überlegungen auf die Gegenwart übertragen lassen.
Felix Schmale: Was verstehst du unter deinem Begriff des Neoliberal Realism?
Jörg Colberg: Der Neoliberale Realismus ist für mich die kapitalistische Version des Sozialistischen Realismus, also eine Form von Kunst, die durch die Vermittlung von Codes das kapitalistische System, in dem wir leben, feiert. Allerdings hatte Mark Fisher (der leider viel zu früh verstorben ist) bereits den Begriff des Kapitalistischen Realismus geprägt, der etwas anderes bedeutet als der Kapitalistische Realismus, den es kurz in der deutschen Kunst gab. Ich musste mir also einen anderen Begriff ausdenken. Es machte Sinn, mich auf den neoliberalen Kapitalismus zu konzentrieren, der ja seit den 1980er Jahren unser Leben prägt und maßgeblich zum Widererstarken des Faschismus beigetragen hat.
Mit dem Neoliberalen Realismus greife ich Ideen von Boris Groys auf, der in The Total Art of Stalinismerläutert, wie der Sozialistische Realismus zu verstehen ist. Ich hatte schon immer argumentiert, dass Fotografie im Wesentlichen durch die Vermittlung von Codes operiert. Groys hat mir gezeigt, wie wichtig solche Codes gerade in Bildern sind, die anscheinend etwas völlig anderes zeigen. Fotos von Annie Leibovitz sind also nicht nur grotesker Kitsch (was sie zweifelsohne sind), sondern vor allem ein extremer Ausdruck z.B. der Leistungsideen, die dem Kapitalismus zugrunde liegen.
FS: In deiner Publikation Photography's Neoliberal Realism (2020) schreibst du, dass nicht alle Bilderder Gegenwart unter den Mechanismen fassbar sind. Welche Bilder schließt du aus und warum?
JC: Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine extrem wichtige Rolle spielen. Damit erzähle ich niemandem etwas Neues. Aber ich denke, dass gerade in der Welt der Fotografie diese Rolle noch immer unterschätzt wird. Zum Beispiel gibt es jetzt Museen, die nur deswegen existieren, damit Leute Selfies in ihnen machen können. Selfies haben ja in der Welt der Fotografie einen ganz schlechten Ruf, aber ich teile diese elitäre und weltfremde Ansicht gar nicht. Das interessant an diesen Museen ist nicht, dass es eigentlich keine echten Museen sind. Das Interessante ist gerade das, was von so vielen Foto-Menschen abgelehnt wird, dass nämlich die Besucher:innen Selfies mit dem, was ausgestellt ist, machen. Das heißt, die Idee des Museums ist nicht die passive Rezeption von irgendetwas, das in angemessener Stille zu betrachten und bewundern ist, sondern der Einbezug der Besucher:innen in die ausgestellte Welt.
Natürlich ist das reinster Kapitalismus: es ist purer Konsum. Und es ist eine Akzeptanz dessen, was mit dem eigenen Gesicht fotografiert und dann in sozialen Medien geteilt wird. Es ist also eine aktive, gewollte Teilhabe am System — auch wenn den meisten Besucher:innen nicht bewusst ist, was sie eigentlich machen bzw. mit sich machen lassen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass es hier nicht darum geht, wer so ein Foto macht oder wie das aussieht. Ein Selfie in so einem Museum sieht natürlich nicht so aus wie eines von Andreas Gurskys Werken (in Deutschland kam es übrigens gar nicht so gut an, dass ich einen der Lieblinge der Fotoszene so kritisch betrachtet habe). Aber die Funktion dieser Bilder ist genau dieselbe.
Insofern ist Neoliberaler Realismus am besten über seine Funktion zu verstehen — und nicht darüber, wer die Bilder macht oder wie die im Detail aussehen. Und gerade Vergleiche mit anscheinend sehr verschiedenen Bildern — Selfies im Gegensatz zu den Luxusgütern aus Düsseldorf — erlauben hier ein tieferes Verständnis von Fotografie und ihrer Rolle in unserer Gesellschaft als vieles, was sonst unter fototheoretischem Diskurs verstanden wird.
Gerade weil der neoliberale Kapitalismus so sehr damit arbeitet, dass die Produkte oder Erlebnisse so fotogen sind, wird es schwieriger und schwieriger, ihn zu vermeiden. Aber wie gesagt, wichtig ist es immer, die Funktion eines Fotos zu verstehen, und sich nicht von technischem Schnickschnack oder anderem Unsinn ablenken zu lassen. Ein Foto kann sehr wohl eine Funktion für den neoliberalen Kapitalismus haben, auch wenn das gar nicht die Absicht der Fotografin oder des Fotografen war.
FS: Was verraten die Bilder – im Sinne des Neoliberal Realism – über die Gesellschaft(en), in denen sie zirkulieren, abseits von einem vermeintlichen Abbild der Wirklichkeit?
JC: Die Popularität von Künstler:innen wie Annie Leibovitz oder Andreas Gursky zeigt, wie wirkungsmächtig der neoliberale Kapitalismus ist. Das System wird ja mittlerweile praktisch kaum noch hinterfragt. Im deutschen Bundestag sitzt z.B. nun nur eine einzige Partei, die Kritik daran anbietet. Egal, was man nun von den Linken halten mag, ist das die Realität. Abgesehen von den Nazis bieten alle anderen Parteien nur Variationen derselben konservativen Idee von Politik an.
Erschreckenderweise findet echte Fotokritik kaum statt. Als z.B. nach dem Attentat auf Trump dieses eine total faschistische Foto die Runde machte (das nun als „Gemälde” im Weißen Haus hängt), gab es nur wenig Kritik daran, was da eigentlich gezeigt wurde. Die klaren faschistischen Codes, die der Fotograf zusammen mit den Redakteur:innen produziert hatte, wurden einfach nicht verstanden. Stattdessen feierten sich die Mitarbeiter:innen der Fotoagentur noch: seht mal, wie toll dieses Bild ist. Fucking hell!
Es gibt also zum einen selbst unter vermeintlichen Profis kaum ein tieferes Verständnis dafür, wie Fotos operieren und wie sich ihre Wirkungsmacht entfalten kann. Zudem wird kaum verstanden, in welchem Ausmaß Fotos unsere Realität bestimmen. Angesichts der Tatsache, dass Fotos das praktisch wichtigste Kommunikationsmedium unserer Zeit sind, ist das eine Katastrophe.
FS: "Visual literacy" wird von dir als eine Möglichkeit beschrieben, Fotografie unter deinen Überlegungen zum Neoliberal Realism zu denken. Welche konkreten Ansätze und Orte gibt es dafür?
JC: Ich kann mir allerlei einfache Mechanismen vorstellen, um das Verständnis für Bilder (nicht nur Fotos) zu erweitern. Ich mache mir aber keinerlei Illusionen, dass das wirklich passieren wird. Zeitungen und Magazine z.B. könnten ihre Bildredakteure verpflichten, regelmäßig Bilder zu besprechen (das könnte auch online stattfinden). Die Kompetenz dazu sollte an sich vorhanden sein. Andererseits bin ich da vielleicht zu optimistisch, denn ich hab mich ja gerade über die visuelle Inkompetenz der Macher:innen des Trump-Fotos aufgeregt. Naja, jedenfalls könnten solche Angebote problemlos in den Medien erscheinen (auch im Fernsehen).
Darüber hinaus müssten Schulen, die ja lesen und schreiben lehren, auch eine Komponente anbieten, die das Lesen von Bildern beinhaltet. Ich meine nicht unbedingt Kunstunterricht, sondern etwas viel Elementareres. Auch da habe ich keinerlei Illusionen, dass sowas umgesetzt wird. Wie wichtig sowas wäre, sieht man ja z.B. an den vielen Beispielen, wo Bilder oder Ideen in den Medien z.B. jungen Frauen erhebliche Probleme bereiten (bis hin zu Essstörungen). Als Gesellschaft schulden wir es an sich unseren Kindern, sie auf die Welt, in die sie sich begeben werden, vorzubereiten. Dass das nicht stattfindet, ist beschämend.
Im Rahmen von Foto-Festivals könnten solche Komponenten auch problemlos angeboten werden, allein schon, um das oft Elitäre solcher Festival etwas zu reduzieren. Ich stelle mir solche Angebote auch interaktiv vor (sowas geht auch in Schulen): Statt eine:n Expert:in vortragen zu lassen, wie ein Foto zu lesen ist, würde ich das Ganze als Diskussion unter den Zuschauer:innen machen: was genau seht Ihr da? Was macht das mit Euch? Der:die Expert:in würde dann nur gewieft die richtigen Fragen stellen müssen und gelegentlich die Diskussion etwas lenken, um das Publikum zum Ziel zu führen. Vor Jahren habe ich mal genau so eine Klasse zum Thema Visual Literacy unterrichtet (bzw. an sich nur geleitet); das hat sehr viel Spaß gemacht, weil die Student:innen schnell gemerkt haben, dass sie mit ein kleines bisschen Hilfe vieles auch einfach untereinander herausfinden können.
FS: Welche Herausforderungen oder Verschiebungen ergeben sich für dein Konzept des Neoliberal Realism durch die Debatte um KI-generierte Bilder?
JC: Ganz ehrlich, abgesehen von den Gedanken, die Roland Meyer produziert, finde ich die Debatten über die sogenannte KI zumeist in einem peinlichen Maße unterkomplex. Als theoretische Herausforderung sehe ich solche Bilder eher nicht. Ob das nun Fotos sind oder Bilder… das hat mit dem Thema an sich nichts zu tun. Entscheidend ist wirklich nur, wie solche gebraucht werden und welche Codes sie beinhalten.
Ich habe an sich vor, das Thema Neoliberal Realism noch zu erweitern und KI-Bilder hinzuzufügen. Gleichermaßen möchte ich aufzeigen, dass viele Wurzeln des Neoliberal Realism ja schon in der Fotografie der sogenannten Neuen Sachlichkeit zu finden waren. Dazu kommen dann noch die Überschneidungen mit dem Faschismus damals, und wie Roland Meyer oft betont, sind die KI-Bilder ja auch nur das Spezialmedium des heutigen Faschismus. Ob ich dazu kommen werde, weiß ich nicht. Ich vermute, dass ich dazu den „Druck” eines Verlags brauchen würde. Nachdem ich vor ein paar Jahren ein Buch über Fotografie geschrieben habe, für das ich keinen Verlag gefunden habe, weiß ich nicht, ob ich mir das noch einmal antun möchte, ohne die Garantie zu haben, dass das dann auch erscheint.
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Joerg Colberg, interviewt von Felix Schmale: Bilderuniversum No. 1 mit Joerg Colberg, Bilderuniversum – Ein Newsletter über visuelle Medien und Gesellschaft, 22.06.2025, online unter https://www.felixschmale.com/bilderuniverum-no1