(k)ein demokratisches Foto
Was stellen Sie sich vor, wenn Sie an Demokratie denken? Welches Foto kommt Ihnen dabei in den Kopf? Was ist auf diesem Foto zu sehen? Ist es eine bestimmte Person, die Sie sehen oder nur ein Gebäude? Sehen Sie einen Plenarsaal voll mit Politiker:innen, die hitzig debattieren? Oder Bilder von Wahlurnen oder Wahlzetteln? Aber was macht ein Foto zu einem demokratischen oder undemokratischen?
Zur Klärung dieser Frage, möchte ich meiner Diskussion einen Gedanken voranstellen. Zum einen sollte zwischen zwei Arten von Demokratie unterschieden werden: Das ist zum einen die Staatsform, die sich aus dem altgriechischen Wort dēmokratía, welches die Macht des Volkes bezeichnet, ableitet. Dabei werden einzelne Repräsentant:innen von Wahlberechtigten für eine begrenzte Zeit mit Macht betraut. Zum anderen kann Demokratie ein Partizipationsprinzip sein. In diesem werden Entscheidungsprozesse demokratisch von einer (un)spezifisch großen Gruppe von Individuen ausgehandelt. [1] Grundsätzlich gehe ich zudem von einer Dualität des fotografischen Bildes aus. Es kann zugleich ein demokratisches und undemokratisches Foto sein. Diese Annahme soll im Folgenden erörtert werden.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen soll ein Foto aus dem Národní muzeum techniky - dem Technischen Nationalmuseum der Tschechischen Republik in Prag sein. Es befindet sich in der Mitte einer schwarzen Vitrine, gerahmt in einem weißen Passepartout. Die Maße sind unbekannt, können aber auf ca. 50 cm x 60 cm geschätzt werden. Zusammen mit einer Sammlung von Digitalkameras, Objektiven und einem Scanner bilden die Artefakte den Teil der Ausstellung (Fotografický ateliér) in der Unterkategorie ‚digitální fotografování‘ - digitale Fotografie. Das Foto soll mir nur als Gedankenstütze dienen, ich werde mich dem Bild im Laufe der Zeit über die Oberfläche nähern, eine tiefere Deutung der Zusammenhänge kann ohne zusätzliches Wissen, dieses Bild und seine Tragweite nicht durchdringen.
Das Foto des tschechischen Fotografen Jan Šilpoch zeigt den frisch gewählten tschechischen Präsidenten Václav Klaus. Es ist der Abend des 28. Februar 2003. Im dritten Wahlgang gewinnt Klaus mit einer knappen Mehrheit der Stimmen gegen den Kandidaten Jan Sokol und wird zum zweiten Präsidenten der tschechischen Republik gewählt, nachdem der Posten einige Zeit vakant gewesen war. [2]
Das Bild zeigt einen Saal. Kronleuchter und stuckverzierte Wände sind zu sehen. Die obere Bildhälfte ist in einem Goldton getuscht. In der Bildmitte ist Klaus lächelnd mit erhobener linker Hand zu sehen, als grüße er jemanden außerhalb des Bildausschnitts. Hinter ihm sind in der Ferne weitere Personen zu erkennen. Alle tragen ein schwarzes Jackett mit weißem Hemd und Krawatte. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Raum voller Männer zu handeln, doch bei genauerem Hinsehen lassen sich, versteckt, auch einige Frauen entdecken. Auf diesem Bild erscheinen sie jedoch als Nebenfiguren. Die Hauptfigur ist Klaus selbst.
Vier weitere männliche Personen, deren Identität aus der Bildunterschrift nicht ersichtlich ist, befinden sich im Mittelgrund. Die Personen links, vermutlich zwei Männer, halten beide einen Fotoapparat in der Hand. Die rechte Person verdeckt damit ihr Gesicht. Der zu erkennende Mann blickt als einziger vom linken Rand des Bildes in die Kamera und lächelt die Betrachtenden an. Die beiden anderen Männer befinden sich rechts im Bild, wobei sie durch Klaus linke Hand getrennt sind. Ihre Blicke verlassen das Bild am rechten Rand. Vermutlich erblicken sie die politische Haltung von Klaus. [3]
Václav Klaus, Jahrgang 1941, gründete im Jahr 1992 die Partei Občanská demokratická strana (ODS), die Demokratische Bürgerpartei. Sie wurde nach dem Ende des Kommunismus (1989) und der Aufspaltung der Tschechoslowakei (1993), zu einer der beiden Volksparteien der Tschechischen Republik. In den politischen Ansichten verkörpert Klaus und die ODS das komplette Gegenteil seines politischen Rivalen Václav Havel. Havel war der erste tschechische Präsident und bekannt für seine Beteiligung an der sogenannten ‚Velvet Revolution‘ sowie als erster postkommunistischer Präsident der Tschechoslowakei. Er engagierte sich für Demokratie und Zivilgesellschaft gegen die tschechoslowakische Diktatur. Später war Havel der erste Präsident der Tschechischen Republik. [4] Die Wahl im Februar 2003 lässt sich in der Retrospektive als Wendepunkt in der noch jungen tschechischen Demokratiegeschichte sehen. Für Klaus ist die Zivilgesellschaft ein bedeutungsloser Bestandteil einer Demokratie. [5] Zentral in Klaus politischen Agenda ist: „political parties, the preservation of individual freedom and the market provided the cornerstones of political pluralism“. [6] Dazu kam eine grundlegend skeptische Haltung gegenüber Nicht-Regierungsorganisationen, dem tschechischen Verfassungsgericht und der freien Presse. [7] Ebenso ist er ein bekennender EU-Kritiker und leugnet den Menschen gemachten Klimawandel. [8]
Heute, Jahre nach seiner Präsidentschaft ist Havel ein Sympathisant der in Teilen als rechtsextrem gesicherten ‚Alternative für Deutschland’ (Afd), so tritt er etwa auf Parteiveranstaltungen auf und teilt seine Meinungen in der rechten bis rechtsextremen Szene-Presse mit. [9]
Aufgenommen wurde das hier beschriebene Foto mit einer Nikon D1. Diese war die erste digitale Spiegelreflexkamera der japanischen Kameraschmiede Nikon. Der Beginn der digitalen Fotografie und damit auch das zu verhandelnde Bild, könnte ebenso als der Beginn der Demokratisierung der Kamera also den Produktionsmitteln für die Bildschaffung beschrieben werden.
Hito Steyerl beschreibt das dokumentarische Fotografien von politischen Ereignissen stets ein Instrument für Machtinteressen sind. [10] So ist die Fotografie von Präsident Klaus nicht nur ein Dokument eines in der Vergangenheit liegenden politischen Ereignisses, sondern stellt demokratisch legitimierte Macht dar. Ob die Funktion dieses Bildes im Spezifischen nun eine demokratische oder undemokratische ist, lässt sich auf verschiedenen Ebenen herausdifferenzieren.
Das Foto zeigt das Ergebnis eines demokratischen Vorgangs. Dieser abstrakte Vorgang kann als andauernder Prozess beschrieben werden. Damit ist gemeint, dass Entscheidungen durch Diskussionen und Abwägen verschiedener Standpunkte ausgehandelt werden. Dieser Vorgang ist nicht statisch, sondern findet wiederkehrend in anderer Besetzung zu verschiedenen Themen statt. Die handelenden Personen erhalten vom Wahlvolk auf eine bestimmte, begrenzte, Zeit Macht anvertraut. Das Foto könnte somit als Personifikation eines solchen Vorgangs beschrieben werden. Durch Wahlen ist ein Gewinner hervorgegangen, der nun eine Regierung auf eine bestimmte Zeit leiten wird.
So prozesshaft wie eine Demokratie, ist auch die Deutung einer Fotografie. Zum Zeitpunkt der Aufnahme ist sie für eine tagesaktuelle Berichterstattung erstellt worden. Der Fotograf war für die Tageszeitung Hospodářské noviny (Wirtschaftszeitung) tätig. Diese gehört dem deutsch-amerikanischen Joint-Venture „Dow Jones – Handelsblatt GmbH“. Dort wird es so lange aktuell gewesen sein, bis eine neue Zeitung erschienen ist, wohlmöglich schon am nächsten Tag. Das Foto bewegt sich prozesshaft in der Zeit, kann wieder aufgegriffen werden. Der Zugriff auf das Bild kann sich über die Zeit verändern, die Deutungshoheit ist nicht singulär bei der Abbildung, sondern bei ihrem Kontext.
Die Verortung des Bildes in einer Nationalen Geschichtsschreibung ist ebenfalls spannend. So trägt das Bild dazu bei Technikgeschichte und im genaueren Foto-Technikgeschichte mit einem nationalen (tschechischen) Bezug zu vereinen. In der gesamten Ausstellung zur Fototechnik im Prager Technikmuseums werden eine große Bandbreite an historischen fotografischen Verfahren vorgestellt, die nicht in der Tschechischen Republik das Licht der Welt erblickt haben. Dennoch wird versucht bei allen Verfahren ein Bezug zur Republik zu ziehen. So passiert es auch bei der digitalen Fotografie. Es wird das Bild von Klaus mit der Technikgeschichte verbunden. Das soll zum einen ein nationales zeitgeschichtliches Event, mit dem eher Abstrakten und wahrscheinlich auch entfernten Moment einer technischen Erfindung über eins bringen. Das trägt zur besseren Einfühlbarkeit bei aber auch, zur Stärkung einer demokratischen tschechischen Identität. Somit ist diese Bild im doppelten Sinne ein Erinnerungsort, der einen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis der tschechischen Republik ist.
Über den Weg, wie das Foto im Technikmuseum landete, kann nur spekuliert werden. Spannend ist jedoch, dass hier sowohl ein Wendepunkt in der Fototechnik - die Digitalfotografie - als auch die Wahl von Klaus - ein Wendepunkt in der Politik der Tschechischen Republik - gleichgesetzt werden. Die Verwendung des Fotos sorgt für einen Überschuss an historischem Gepäck, den der zeitgeschichtliche Moment mit sich bringt. Gleichzeitig führt sie zu einer Popularisierung von Klaus ohne den Kontext seiner politischen Person.
Der Zugriff auf das Bild könnte ebenso sein, dass es sich hier um die Darstellung eines einzelnen Mächtigen handelt. Dabei wird Klaus im Bild als einzelner Herrscher dargestellt. Zudem kommt, dass alle anderen Personen im Bild optisch gleich aussehen. Alle erkennbaren Personen tragen einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Ohne die genaue demografische Verteilung der tschechischen Republik zu kennen, wird an diesem Bild deutlich, dass es sich nicht um eine repräsentative Abbildung der tschechischen Bevölkerung handelt. In einem nächsten Schritt könnte, rein auf einer visuellen Ebene davon die Sprache sein, dass es sich hierbei um einen post-demokratischen Zustand handelt. Dirk Jörke schreibt in Bezug auf Colin Crouch [11] dazu: „Der Begriff der ,Postdemokratie' soll […] die Fortexistenz demokratischer Institutionen und andererseits das Bewusstsein eines diffusen, gleichwohl gravierenden Wandels der politischen Systeme des Westens zum Ausdruck bringen. Postdemokratische Regime setzen somit demokratische Formen voraus, überschreiten diese aber gleichzeitig auch.“ [12]
Überspitzt gesagt geht es um eine Art Simulation von Demokratie. Wahlen und demokratische Teilhabe wird simulativ umgesetzt und führt zu Ergebnissen. Die politische Handlungsmacht bzw. der Handlungsspielraum ist dennoch durch die Macht von supranationalen handelnden Unternehmen eingeschränkt. Die politische Situation ist realpolitisch gesehen handlungsunfähig. Eine derartige Demokratie beschreibt Cornelius Castoriadis als eine ‚liberale Oligarchie‘. [13] Er thematisiert insbesondere das Fehlen direktdemokratischer Elemente, also die Möglichkeit für alle Individuen innerhalb einer nationalstaatlichen Entität, an Gesetzgebungsprozessen und deren Umsetzung teilzuhaben. [14]
Im Weiteren könnte der Bildschaffungsprozess ebenfalls als ein undemokratischer Moment gedeutet werden. Azoulay beschrieb, dass in diesen Momenten die Deutungshoheit über den Moment, der fotografiert wird, ausschließlich bei den Fotograf:innen liegt und nicht kollaborativ oder im Einvernehmen geschieht. Letzteren ist somit eine große Menge Macht überlassen. [15]
In jedem Fall kann das Foto, als ein flexibles und prozesshaftes Artefakt charakterisiert werden, das in seiner Natur, der einer Demokratie ähnelt. In diesem Kontext kann das Foto als Abbild von Demokratie betrachtet werden, welches zur Identitätsbildung einer demokratischen Nation beiträgt. Ebenso kann es im gleichen Moment oder in späteren Momenten als undemokratisch wahrgenommen werden. Dies kann sich sowohl auf den Bildinhalt als auch auf das Gefüge, in welchem es steht, beziehen. Der demokratietheoretische Zugriff ist demnach nicht als starr zu betrachten. Dadurch wird ein Bild oder, um genauer zu sein, dieses hier gezeigte Foto zu (k)einem demokratischen Foto.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu auch: Dingeldey, Phillip und Dirk Jörke: „Demokratie“, in: Schmidt-Lauber, Brigitta und Manuel Liebig (Hrsg.): Begriffe der Gegenwart: Ein kulturwissenschaftliches Glossar, 1. Aufl., Wien: Böhlau Verlag 06.12.2021, S. 49–55, hier S. 49–55, https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.7767/9783205212744 (zugegriffen am 17.04.2024).
[2] vgl. Kraus, Michael: „The Czech Republicis First Decade“, Journal of Democracy 14/2 (04.2003), S. 50–64, hier S. 64.
[3] Das Foto wurde mir freundlicherweise von Tomáš Štanzel, Kurator der Fotoabteilung des Technischen Nationalmuseums in Prag, zur Verfügung gestellt. Ich danke ihm und seinen Kollegen Jan Duda und Dr. Zdeněk Vácha. [Das Foto kann hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden]
[4] Borger, Julian: „Vaclav Havel, former Czech president, dies aged 75“, The Guradian, 18.09.2011, https://www.theguardian.com/world/2011/dec/18/vaclav-havel-dies (zugegriffen am 28.06.2024).
[5] Pehe, Jiri: „Czech Democracy Under Pressure“, Journal of Democracy 29/3 (2018), S. 65–77.
[6] Kraus: „The Czech Republicis First Decade“, S. 53.
[7] Pehe: „Czech Democracy Under Pressure“, S. 74.
[8] dpa und Süddeutsche Zeitung: „AfD lädt Václav Klaus ins Maximilianeum ein“, Süddeutsche Zeitung, 22.09.2019, https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-afd-landtag-klimawandel-vaclav-klaus-1.4610863.
[9] Ebd.; Klaus, Václav: „Václav Klaus – Deutsche Seiten“, Persönliche Webseite, 2024, https://www.klaus.cz/deutsche-seiten/ (zugegriffen am 28.06.2024).
[10] Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Republicart 8, Wien: Turia + Kant 2008, S. 132.
[11] Siehe dazu die aktuelle und ins Deutsche Übersetzt Fassung Crouch, Colin: Postdemokratie / aus dem Englischen von Nikolaus Gramm, übers. von Nikolaus Gramm, Edition Suhrkamp 2540, Deutsche Erstausgabe, 14. Auflage Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020.
[12] Jörke, Dirk: „Warum ‚Postdemokratie‘?“, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 19/4 (01.12.2006), S. 38–46, hier S. 38.
[13] Schwarte, Ludger: „Plastische Demokratie“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 68/1 (13.07.2023), S. 12–13, hier S. 57.
[14] Ebd.
[15] Azoulay, Ariella Aïsha: „Toward the Abolition of Photography’s Imperial Rights“, in: Coleman, Kevin und Daniel James (Hrsg.): Capitalism and the Camera: Essays on Photography and Extraction, London ; New York: Verso 2021, S. 41–67, hier S. 41.
Diesen Beitrag zitieren:
Schmale, Felix: "(k)ein demokratisches Foto", felixschmale.com/kein-demokratisches-foto/, 2024.
(k)ein demokratisches Foto
Was stellen Sie sich vor, wenn Sie an Demokratie denken? Welches Foto kommt Ihnen dabei in den Kopf? Was ist auf diesem Foto zu sehen? Ist es eine bestimmte Person, die Sie sehen oder nur ein Gebäude? Sehen Sie einen Plenarsaal voll mit Politiker:innen, die hitzig debattieren? Oder Bilder von Wahlurnen oder Wahlzetteln? Aber was macht ein Foto zu einem demokratischen oder undemokratischen?
Zur Klärung dieser Frage, möchte ich meiner Diskussion einen Gedanken voranstellen. Zum einen sollte zwischen zwei Arten von Demokratie unterschieden werden: Das ist zum einen die Staatsform, die sich aus dem altgriechischen Wort dēmokratía, welches die Macht des Volkes bezeichnet, ableitet. Dabei werden einzelne Repräsentant:innen von Wahlberechtigten für eine begrenzte Zeit mit Macht betraut. Zum anderen kann Demokratie ein Partizipationsprinzip sein. In diesem werden Entscheidungsprozesse demokratisch von einer (un)spezifisch großen Gruppe von Individuen ausgehandelt. [1] Grundsätzlich gehe ich zudem von einer Dualität des fotografischen Bildes aus. Es kann zugleich ein demokratisches und undemokratisches Foto sein. Diese Annahme soll im Folgenden erörtert werden.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen soll ein Foto aus dem Národní muzeum techniky - dem Technischen Nationalmuseum der Tschechischen Republik in Prag sein. Es befindet sich in der Mitte einer schwarzen Vitrine, gerahmt in einem weißen Passepartout. Die Maße sind unbekannt, können aber auf ca. 50 cm x 60 cm geschätzt werden. Zusammen mit einer Sammlung von Digitalkameras, Objektiven und einem Scanner bilden die Artefakte den Teil der Ausstellung (Fotografický ateliér) in der Unterkategorie ‚digitální fotografování‘ - digitale Fotografie. Das Foto soll mir nur als Gedankenstütze dienen, ich werde mich dem Bild im Laufe der Zeit über die Oberfläche nähern, eine tiefere Deutung der Zusammenhänge kann ohne zusätzliches Wissen, dieses Bild und seine Tragweite nicht durchdringen.
Das Foto des tschechischen Fotografen Jan Šilpoch zeigt den frisch gewählten tschechischen Präsidenten Václav Klaus. Es ist der Abend des 28. Februar 2003. Im dritten Wahlgang gewinnt Klaus mit einer knappen Mehrheit der Stimmen gegen den Kandidaten Jan Sokol und wird zum zweiten Präsidenten der tschechischen Republik gewählt, nachdem der Posten einige Zeit vakant gewesen war. [2]
Das Bild zeigt einen Saal. Kronleuchter und stuckverzierte Wände sind zu sehen. Die obere Bildhälfte ist in einem Goldton getuscht. In der Bildmitte ist Klaus lächelnd mit erhobener linker Hand zu sehen, als grüße er jemanden außerhalb des Bildausschnitts. Hinter ihm sind in der Ferne weitere Personen zu erkennen. Alle tragen ein schwarzes Jackett mit weißem Hemd und Krawatte. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Raum voller Männer zu handeln, doch bei genauerem Hinsehen lassen sich, versteckt, auch einige Frauen entdecken. Auf diesem Bild erscheinen sie jedoch als Nebenfiguren. Die Hauptfigur ist Klaus selbst.
Vier weitere männliche Personen, deren Identität aus der Bildunterschrift nicht ersichtlich ist, befinden sich im Mittelgrund. Die Personen links, vermutlich zwei Männer, halten beide einen Fotoapparat in der Hand. Die rechte Person verdeckt damit ihr Gesicht. Der zu erkennende Mann blickt als einziger vom linken Rand des Bildes in die Kamera und lächelt die Betrachtenden an. Die beiden anderen Männer befinden sich rechts im Bild, wobei sie durch Klaus linke Hand getrennt sind. Ihre Blicke verlassen das Bild am rechten Rand. Vermutlich erblicken sie die politische Haltung von Klaus. [3]
Václav Klaus, Jahrgang 1941, gründete im Jahr 1992 die Partei Občanská demokratická strana (ODS), die Demokratische Bürgerpartei. Sie wurde nach dem Ende des Kommunismus (1989) und der Aufspaltung der Tschechoslowakei (1993), zu einer der beiden Volksparteien der Tschechischen Republik. In den politischen Ansichten verkörpert Klaus und die ODS das komplette Gegenteil seines politischen Rivalen Václav Havel. Havel war der erste tschechische Präsident und bekannt für seine Beteiligung an der sogenannten ‚Velvet Revolution‘ sowie als erster postkommunistischer Präsident der Tschechoslowakei. Er engagierte sich für Demokratie und Zivilgesellschaft gegen die tschechoslowakische Diktatur. Später war Havel der erste Präsident der Tschechischen Republik. [4] Die Wahl im Februar 2003 lässt sich in der Retrospektive als Wendepunkt in der noch jungen tschechischen Demokratiegeschichte sehen. Für Klaus ist die Zivilgesellschaft ein bedeutungsloser Bestandteil einer Demokratie. [5] Zentral in Klaus politischen Agenda ist: „political parties, the preservation of individual freedom and the market provided the cornerstones of political pluralism“. [6] Dazu kam eine grundlegend skeptische Haltung gegenüber Nicht-Regierungsorganisationen, dem tschechischen Verfassungsgericht und der freien Presse. [7] Ebenso ist er ein bekennender EU-Kritiker und leugnet den Menschen gemachten Klimawandel. [8]
Heute, Jahre nach seiner Präsidentschaft ist Havel ein Sympathisant der in Teilen als rechtsextrem gesicherten ‚Alternative für Deutschland’ (Afd), so tritt er etwa auf Parteiveranstaltungen auf und teilt seine Meinungen in der rechten bis rechtsextremen Szene-Presse mit. [9]
Aufgenommen wurde das hier beschriebene Foto mit einer Nikon D1. Diese war die erste digitale Spiegelreflexkamera der japanischen Kameraschmiede Nikon. Der Beginn der digitalen Fotografie und damit auch das zu verhandelnde Bild, könnte ebenso als der Beginn der Demokratisierung der Kamera also den Produktionsmitteln für die Bildschaffung beschrieben werden.
Hito Steyerl beschreibt das dokumentarische Fotografien von politischen Ereignissen stets ein Instrument für Machtinteressen sind. [10] So ist die Fotografie von Präsident Klaus nicht nur ein Dokument eines in der Vergangenheit liegenden politischen Ereignisses, sondern stellt demokratisch legitimierte Macht dar. Ob die Funktion dieses Bildes im Spezifischen nun eine demokratische oder undemokratische ist, lässt sich auf verschiedenen Ebenen herausdifferenzieren.
Das Foto zeigt das Ergebnis eines demokratischen Vorgangs. Dieser abstrakte Vorgang kann als andauernder Prozess beschrieben werden. Damit ist gemeint, dass Entscheidungen durch Diskussionen und Abwägen verschiedener Standpunkte ausgehandelt werden. Dieser Vorgang ist nicht statisch, sondern findet wiederkehrend in anderer Besetzung zu verschiedenen Themen statt. Die handelenden Personen erhalten vom Wahlvolk auf eine bestimmte, begrenzte, Zeit Macht anvertraut. Das Foto könnte somit als Personifikation eines solchen Vorgangs beschrieben werden. Durch Wahlen ist ein Gewinner hervorgegangen, der nun eine Regierung auf eine bestimmte Zeit leiten wird.
So prozesshaft wie eine Demokratie, ist auch die Deutung einer Fotografie. Zum Zeitpunkt der Aufnahme ist sie für eine tagesaktuelle Berichterstattung erstellt worden. Der Fotograf war für die Tageszeitung Hospodářské noviny (Wirtschaftszeitung) tätig. Diese gehört dem deutsch-amerikanischen Joint-Venture „Dow Jones – Handelsblatt GmbH“. Dort wird es so lange aktuell gewesen sein, bis eine neue Zeitung erschienen ist, wohlmöglich schon am nächsten Tag. Das Foto bewegt sich prozesshaft in der Zeit, kann wieder aufgegriffen werden. Der Zugriff auf das Bild kann sich über die Zeit verändern, die Deutungshoheit ist nicht singulär bei der Abbildung, sondern bei ihrem Kontext.
Die Verortung des Bildes in einer Nationalen Geschichtsschreibung ist ebenfalls spannend. So trägt das Bild dazu bei Technikgeschichte und im genaueren Foto-Technikgeschichte mit einem nationalen (tschechischen) Bezug zu vereinen. In der gesamten Ausstellung zur Fototechnik im Prager Technikmuseums werden eine große Bandbreite an historischen fotografischen Verfahren vorgestellt, die nicht in der Tschechischen Republik das Licht der Welt erblickt haben. Dennoch wird versucht bei allen Verfahren ein Bezug zur Republik zu ziehen. So passiert es auch bei der digitalen Fotografie. Es wird das Bild von Klaus mit der Technikgeschichte verbunden. Das soll zum einen ein nationales zeitgeschichtliches Event, mit dem eher Abstrakten und wahrscheinlich auch entfernten Moment einer technischen Erfindung über eins bringen. Das trägt zur besseren Einfühlbarkeit bei aber auch, zur Stärkung einer demokratischen tschechischen Identität. Somit ist diese Bild im doppelten Sinne ein Erinnerungsort, der einen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis der tschechischen Republik ist.
Über den Weg, wie das Foto im Technikmuseum landete, kann nur spekuliert werden. Spannend ist jedoch, dass hier sowohl ein Wendepunkt in der Fototechnik - die Digitalfotografie - als auch die Wahl von Klaus - ein Wendepunkt in der Politik der Tschechischen Republik - gleichgesetzt werden. Die Verwendung des Fotos sorgt für einen Überschuss an historischem Gepäck, den der zeitgeschichtliche Moment mit sich bringt. Gleichzeitig führt sie zu einer Popularisierung von Klaus ohne den Kontext seiner politischen Person.
Der Zugriff auf das Bild könnte ebenso sein, dass es sich hier um die Darstellung eines einzelnen Mächtigen handelt. Dabei wird Klaus im Bild als einzelner Herrscher dargestellt. Zudem kommt, dass alle anderen Personen im Bild optisch gleich aussehen. Alle erkennbaren Personen tragen einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Ohne die genaue demografische Verteilung der tschechischen Republik zu kennen, wird an diesem Bild deutlich, dass es sich nicht um eine repräsentative Abbildung der tschechischen Bevölkerung handelt. In einem nächsten Schritt könnte, rein auf einer visuellen Ebene davon die Sprache sein, dass es sich hierbei um einen post-demokratischen Zustand handelt. Dirk Jörke schreibt in Bezug auf Colin Crouch [11] dazu: „Der Begriff der ,Postdemokratie' soll […] die Fortexistenz demokratischer Institutionen und andererseits das Bewusstsein eines diffusen, gleichwohl gravierenden Wandels der politischen Systeme des Westens zum Ausdruck bringen. Postdemokratische Regime setzen somit demokratische Formen voraus, überschreiten diese aber gleichzeitig auch.“ [12]
Überspitzt gesagt geht es um eine Art Simulation von Demokratie. Wahlen und demokratische Teilhabe wird simulativ umgesetzt und führt zu Ergebnissen. Die politische Handlungsmacht bzw. der Handlungsspielraum ist dennoch durch die Macht von supranationalen handelnden Unternehmen eingeschränkt. Die politische Situation ist realpolitisch gesehen handlungsunfähig. Eine derartige Demokratie beschreibt Cornelius Castoriadis als eine ‚liberale Oligarchie‘. [13] Er thematisiert insbesondere das Fehlen direktdemokratischer Elemente, also die Möglichkeit für alle Individuen innerhalb einer nationalstaatlichen Entität, an Gesetzgebungsprozessen und deren Umsetzung teilzuhaben. [14]
Im Weiteren könnte der Bildschaffungsprozess ebenfalls als ein undemokratischer Moment gedeutet werden. Azoulay beschrieb, dass in diesen Momenten die Deutungshoheit über den Moment, der fotografiert wird, ausschließlich bei den Fotograf:innen liegt und nicht kollaborativ oder im Einvernehmen geschieht. Letzteren ist somit eine große Menge Macht überlassen. [15]
In jedem Fall kann das Foto, als ein flexibles und prozesshaftes Artefakt charakterisiert werden, das in seiner Natur, der einer Demokratie ähnelt. In diesem Kontext kann das Foto als Abbild von Demokratie betrachtet werden, welches zur Identitätsbildung einer demokratischen Nation beiträgt. Ebenso kann es im gleichen Moment oder in späteren Momenten als undemokratisch wahrgenommen werden. Dies kann sich sowohl auf den Bildinhalt als auch auf das Gefüge, in welchem es steht, beziehen. Der demokratietheoretische Zugriff ist demnach nicht als starr zu betrachten. Dadurch wird ein Bild oder, um genauer zu sein, dieses hier gezeigte Foto zu (k)einem demokratischen Foto.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu auch: Dingeldey, Phillip und Dirk Jörke: „Demokratie“, in: Schmidt-Lauber, Brigitta und Manuel Liebig (Hrsg.): Begriffe der Gegenwart: Ein kulturwissenschaftliches Glossar, 1. Aufl., Wien: Böhlau Verlag 06.12.2021, S. 49–55, hier S. 49–55, https://www.vr-elibrary.de/doi/book/10.7767/9783205212744 (zugegriffen am 17.04.2024).
[2] vgl. Kraus, Michael: „The Czech Republicis First Decade“, Journal of Democracy 14/2 (04.2003), S. 50–64, hier S. 64.
[3] Das Foto wurde mir freundlicherweise von Tomáš Štanzel, Kurator der Fotoabteilung des Technischen Nationalmuseums in Prag, zur Verfügung gestellt. Ich danke ihm und seinen Kollegen Jan Duda und Dr. Zdeněk Vácha.
[4] Borger, Julian: „Vaclav Havel, former Czech president, dies aged 75“, The Guradian, 18.09.2011, https://www.theguardian.com/world/2011/dec/18/vaclav-havel-dies (zugegriffen am 28.06.2024).
[5] Pehe, Jiri: „Czech Democracy Under Pressure“, Journal of Democracy 29/3 (2018), S. 65–77.
[6] Kraus: „The Czech Republicis First Decade“, S. 53.
[7] Pehe: „Czech Democracy Under Pressure“, S. 74.
[8] dpa und Süddeutsche Zeitung: „AfD lädt Václav Klaus ins Maximilianeum ein“, Süddeutsche Zeitung, 22.09.2019, https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-afd-landtag-klimawandel-vaclav-klaus-1.4610863.
[9] Ebd.; Klaus, Václav: „Václav Klaus – Deutsche Seiten“, Persönliche Webseite, 2024, https://www.klaus.cz/deutsche-seiten/ (zugegriffen am 28.06.2024).
[10] Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Republicart 8, Wien: Turia + Kant 2008, S. 132.
[11] Siehe dazu die aktuelle und ins Deutsche Übersetzt Fassung Crouch, Colin: Postdemokratie / aus dem Englischen von Nikolaus Gramm, übers. von Nikolaus Gramm, Edition Suhrkamp 2540, Deutsche Erstausgabe, 14. Auflage Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020.
[12] Jörke, Dirk: „Warum ‚Postdemokratie‘?“, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 19/4 (01.12.2006), S. 38–46, hier S. 38.
[13] Schwarte, Ludger: „Plastische Demokratie“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 68/1 (13.07.2023), S. 12–13, hier S. 57.
[14] Ebd.
[15] Azoulay, Ariella Aïsha: „Toward the Abolition of Photography’s Imperial Rights“, in: Coleman, Kevin und Daniel James (Hrsg.): Capitalism and the Camera: Essays on Photography and Extraction, London ; New York: Verso 2021, S. 41–67, hier S. 41.